Rabindranath Tagore

Chitra

Ein Spiel in einem Aufzug

Ins Deutsche übertragen von Elisabeth Wolff-Merck

 

Arjuna, einer der großen Helden des Epos Mahabharata, trifft die Prinzessin Chitra und verliebt sich in sie.

Nachwort

 

Tagores lyrisches Drama „Chitra“ erschien 1892 in der bengalischen Originalfassung. 1913 wurde in London eine englische Übersetzung veröffentlicht. Dieser Text war die Grundlage für die deutsche Übertragung, die ein Jahr später erschien.

 

Die Übersetzerin, Elisabeth Wolff-Merck, wurde 1890 in Darmstadt geboren. Sie gehörte der alten, traditionsreichen Merck-Familie an. Einer ihrer Vorfahren war Friedrich Jacob Merck (1621-1678), der in Darmstadt eine Apotheke erwarb, die zur Keimzelle eines großen pharmazeutisch-chemischen Unternehmens wurde. Zur Merck-Familie gehörte auch Johann Heinrich Merck (1741-1791), der im literarischen Leben in Darmstadt zur Zeit der Aufklärung eine wichtige Rolle spielte. Er war Dichter, Herausgeber, Redakteur und Verfasser von Rezensionen, Essays und Erzählprosa und gründete 1771 einen Verlag für zeitgenössische Literatur. Zu Mercks Freunden gehörte Johann Wolfgang von Goethe.

 

Es war das Interesse an dem vielseitigen Literaten Johann Heinrich Merck, das Kurt Wolff (1887-1963) in Kontakt mit der Familie Merck brachte. Kurt Wolff

2011, 108 Seiten, 12,80 Euro, ISBN 978-3-937603-51-3


war in Bonn geboren und hatte in Marburg ein Germanistikstudium begonnen. Im Herbst 1906 kam er nach Darmstadt, um seinen Militärdienst zu leisten. Dort lernte er Elisabeth Merck kennen. Im April 1907 verlobten sie sich, und am 2. September 1909 wurde die Ehe geschlossen.

Danach ging das junge Paar nach Leipzig, wo Kurt Wolff sein Studium fortsetzte. Auch Elisabeth Wolff-Merck besuchte in dieser Zeit Vorlesungen. Sie erlebte mit, wie ihr Gatte einen Verlag gründete, der sich innerhalb von wenigen Jahren zu einem der bedeutendsten deutschen Literaturverlagen entwickelte.

 

Kurt Wolff hat ein ausgesprochen gutes Gespür für begabte Autoren. Er veröffentlichte Werke von Franz Kafka, Georg Trakl, Robert Walser – alles Schriftsteller, die damals völlig unbekannt (bzw. notorisch erfolglos) waren, heute aber zu den großen Namen der deutschsprachigen Literatur gehören. Wenn er von einem Autor überzeugt war, hielt er an ihm fest, auch wenn er nur wenige Bücher verkaufen konnte.

 

Auch Elisabeth Wolff-Merck beteiligte sich am Aufbau des Kurt Wolff Verlags. Es scheint, dass sie vor allem in der Anfangsphase eine wichtige Rolle spielte. So soll sie es gewesen sein, die Kurt Wolff auf die Gedichte Georg Trakls aufmerksam machte. Und als ihr Mann im August 1914 eingezogen wurde, übernahm sie pro forma die Leitung des Verlags. (De facto lag die Geschäftsführung allerdings in den Händen von Georg Heinrich Meyer, dem wichtigsten Mitarbeiter Wolffs). Außerdem war Elisabeth Wolff-Merck im Ersten Weltkrieg für das Rote Kreuz tätig.

 

Kurz nach Kriegsbeginn zog Elisabeth Wolff-Merck zu ihrer Mutter nach Darmstadt. Hier hielt sich auch ihr Mann zumeist auf, nachdem er im September 1916 vom Militärdienst freigestellt worden war. Im April 1918 zog die Familie offiziell von Leipzig nach Darmstadt. Im Herbst 1919 wurde der Verlag nach München verlegt, wo Elisabeth und Kurt Wolff dann ab März 1920 ihren Wohnsitz hatten. 

 

Der indische Dichter Rabindranath Tagore (1861-1941) war kein typischer Autor des Kurt Wolff Verlags. In der ersten Phase seines Verlegerdaseins publizierte Kurt Wolff vor allem die Werke deutschsprachiger Autoren. Doch als ihm angeboten wurde, Werke Tagores in deutscher Übersetzung zu veröffentlichen, zeigte sich auch hier sein Gespür für bedeutende Literatur. 1914 erschienen die ersten drei Tagorewerke: die Gedicht-sammlungen „Hohe Lieder“ und „Der Gärtner“ sowie das Theaterstück „Chitra“. Alle diese Bücher waren kurz zuvor aus dem Bengalischen ins Englische übersetzt worden. Kurt Wolff orientierte sich bei der Veröffent-lichung von Tagore- Titeln im Wesentlichen daran, von welchen Werken es schon englische Übersetzungen gab. Dabei handelte es sich ausschließlich um von Tagore selbst autorisierte Übertragungen aus dem Bengalischen ins Englische.

 

Tagore wurde für Kurt Wolff zu einem phänomenalen Erfolg. Zwischen 1914 und 1930 verkaufte der Kurt Wolff Verlag mehr als eine Million Tagore-Bücher. Den Höhepunkt bildete dabei das Jahr 1921, als Tagore erstmals nach Deutschland kam. In einer Zeit, als in Deutschland große Verunsicherung herrschte, wurde Tagore von vielen Deutschen wie ein Messias empfangen. Dazu trug sicherlich auch Tagores Aussehen bei. Mit seiner würdevollen Gestalt und seinem weißen Bart wirkte er wie ein Prophet aus dem Alten Testament. 

 

Die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg waren für Kurt Wolff die einträglichsten. Sie ermöglichten ihm und seiner Frau einen großzügigen Lebensstil. Doch schon bald geriet der Kurt Wolff Verlag in ernsthafte Schwierigkeiten. Dies lag vor allem an der Inflation, die 1923 ihren Höhepunkt erreichte. Ein Schweizer Franke kostete im August dieses Jahres 1,2 Millionen, zwei Monate später bereits eine Milliarde Reichsmark. Eine vernünftige Verlagsarbeit war unter diesen Bedingungen unmöglich. Wie viele andere Deutsche, so verlor auch Kurt Wolff 1923 einen großen Teil seines nicht unbedeutenden Vermögens.

 

Als sich die wirtschaftliche Lage dann wieder stabilisierte, hatte sich vieles verändert. Kaum noch jemand interessierte sich für Tagore, und auch die Nachfrage nach den Werken anderer Autoren ließ schlagartig nach. Kurt Wolff versuchte, den Verlag zu retten, indem er ihn internationalisierte und die Herausgabe hochwertiger Kunstbände zum Schwerpunkt machte. Aber es gelang ihm nicht, den Niedergang aufzuhalten.

Die 1929 beginnende Weltwirtschaftskrise versetzte dem Kurt Wolff Verlag dann den Todesstoß. Die ökonomischen Schwierigkeiten wirkten sich auch auf das Privatleben aus. 1930 ließen sich Kurt und Elisabeth Wolff scheiden. Kurt Wolff hielt sich von nun an die meiste Zeit im Ausland auf. Am 27. März 1933 heiratet er in London Helen Mosel, mit der er 1941 in die USA emigrierte.

 

Elisabeth Merck hatte schon 1931 den Münchner Gynäkologen Prof. Dr. Hans Albrecht (1878-1944) geheiratet. Allerdings blieb der Kontakt zwischen Kurt Wolff und Elisabeth Albrecht bestehen. Vor allem die gemeinsamen Kinder, Maria und Nikolaus, blieben auch nach 1930 in enger Verbindung mit ihrem Vater.

Bezeichnend ist, was uns Christiane Stadelmayer Clemm, die Enkelin von Elisabeth und Kurt Wolff, berichtet. Ihre Großmutter „war eine beeindruckende, sehr schöne und gebildete Frau, die tiefe Spuren bei ihren Enkeln hinterlassen hat.“ Christiane Stadelmayer Clemm erinnert sich daran, dass Elisabeth Albrecht über Kurt Wolffs zweite Frau zu sagen pflegte: „Helene ist das Beste, was Kurt je passiert ist.“ 

 

Was nun das Drama „Chitra“ betrifft, so bezieht sich die Handlung, wie Tagore in der „Vorbemerkung“ schreibt, auf das „Mahabharata“, ein etwa 2000 Jahre altes Epos. Das „Mahabharata“ stellt dar, wie zwei Zweige derselben Familie, die Kauravas und Pandavas, um ein Königreich kämpfen. Der große Bogenschütze Arjuna gehört den Pandavas an. Durch eine List wird er mit seinen Brüdern um seinen rechtmäßigen Anteil an dem Königreich betrogen und muss ins Exil. Nach 12 Jahren kehren die Pandavas zurück und besiegen in einer äußerst blutigen Schlacht die Kauravas.

 

Die Geschichte von Arjuna und Chitra gehört zu den vielen Episoden, die in das „Mahabharata“ eingeflochten sind. Dabei enthält Tagores Drama gegenüber dem altindischen Epos eine wichtige Änderung. Elisabeth Wolff-Merck fügt dazu unter Berufung auf den Indologen Hermann Georg Jacobi (1850-1937) der deutschen Erstausgabe von „Chitra“ folgende Anmerkung bei:

 

„Tagores Dichtung entspricht nicht dem Sinn der Sage. Er sagt S. 6 von Chitras Vater: ‚Er hatte sie deshalb stets wie einen Sohn gehalten und zu seinem Erben gemacht.‘ Der Text in Protap Chandra Roys Übersetzung lautet: ‚I have duly made her a putrika.’ Putrika ist ein juristischer Ausdruck und bezeichnet eine Tochter, die mangels eines Sohnes (putra) die Familie ihres Vaters, nicht ihres Gatten, fortpflanzen soll. Für letzteren bedeutet also die Eingehung einer solchen Ehe den Verzicht auf die Fortpflanzung seiner Familie. Tagore hat dies offenbar nicht gewusst und macht daher aus putrika eine Tochter, die als Sohn (putra) erzogen wird! Das Epos kennt eine Sage, wo eine Prinzessin für einen Prinz ausgegeben und als solcher erzogen wird (die Geschichte von Sikhandin). Diese Reminiszenz mag sich bei dem Dichter mit dem Sagenstoff, auf den er in der Vorrede hinweist, verschmolzen haben.“

 

Da „Chitra“ zu den ersten Werken Tagores gehörte, die in Europa erschienen, und da es vom Autor selbst ins Englische übersetzt wurde, sollte das Drama nicht in Vergessenheit geraten. Der 150. Geburtstag des indischen Dichters ist ein guter Anlass, sich erneut mit dem Werk zu beschäftigen.

 

Christian Weiß


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