Heide-Marie Lauterer

Das Bestsellerprojekt

Roman

Was ist Erfolg?

 

Geld, Anerkennung, die Veröffentlichung eines Bestsellers? Oder etwas anderes?

 

Carlo, Libella und Kevin haben auf diese Frage unterschiedliche Antworten. So stellen sich die drei ihren Herausforderungen, entdecken in ihrem bisherigen Leben Brüche und blinde Flecke und überdenken ihre Ansichten von Erfolg von Grund auf. Das führt zu einem neuen Reigen an Beziehungen und nach Irrungen und Wirrungen für alle zu einem erfüllten Leben.

Heide-Marie Lauterer lebt und schreibt in Heidelberg. Sie absolvierte ein Studium in Germanistik und Geschichte. "Das Bestsellerprojekt" ist ihr sechster Roman

2019, 224 Seiten, 18,00 Euro, ISBN 978-3-945191-48-4



Leseprobe: 

 

1

 

Libella

 

Libella wurde wach, streckte ihre Hand nach Carlo aus, tastete ins Leere; enttäuscht zog sie die Hand zurück, seine Hälfte des Bettes war kalt. Aus seinem Büro drang das Klappern der Tasten, das einzige Geräusch, das seit Tagen aus dem Zimmer kam. Schriftsteller waren merkwürdige Leute.

Es war zu früh um aufzustehen, und sie drehte sich noch einmal um. Als sie nach einer Stunde vom Weckerklingeln aufschreckte, klopfte ihr Herz; sie hatte geträumt und die Stimmung des Traums klang noch in ihr nach. Der Traum war aufregend wie ein Film gewesen, aber ziemlich unverständlich. Sie hatte einen toten Vogel im Garten begraben, aber das Vogelgrab war aufgewühlt, und der Vogel nicht mehr da. Dann ritt sie auf einem braunen Pony durch eine Steppe zu einem mächtigen Stein. Dort wartete ein Mann auf sie, dem sie ihr Geschenk brachte. Nicht irgendein Geschenk, auch nicht irgendein Mann, was ihr im Traum nicht verwunderlich erschien. Nach dem Aufwachen allerdings schon. Es war lange her, dass sie jemanden so ein Geschenk gemacht hatte, denn es drehte sich nicht um ein Mitbringsel oder etwas nett Eingepacktes zum Geburtstag. Dieses Geschenk würde eine besondere Wirkung zeigen, welche, wusste sie nicht, auch nicht, wer der geheimnisvolle Mann war.

Die Bilder ließen sie nicht los, sogar während der Unterrichtspausen in der Volkshochschule dachte sie an nichts anderes. Schließlich war sie fast sicher, dass der Mann Carlo sein musste, aber für das Geschenk fand sie keine Erklärung. Heute Abend frage ich ihn, sagte sie sich.

Abends saßen sie zusammen auf der Terrasse und schauten den Schwalben zu, wie sie durch die Luft jagten. Libella riss Pfefferminzblättchen von der Pflanze auf der Fensterbank ab und zerrieb sie zwischen den Fingern, während Carlo über seine Schwierigkeiten redete. „Ich finde einfach kein glückliches Ende.“

Er redete und redete, und Libella schnüffelte Pfefferminzduft. Als er eine kleine Pause machte, um Luft zu holen, nutzte sie die Gelegenheit: „Warum glücklich?“, warf sie ein. Eigentlich wollte sie es gar nicht wissen, denn ihr ging es gar nicht um das Ende, sondern um den Anfang.

Gerade in diesem Augenblick stand Carlo auf. Ohne auf ihre Frage zu achten sagte er: „Entschuldige, mir ist gerade was eingefallen!“

Er hatte wieder einen seiner Einfallsblitze gehabt. Seitdem er an seinem neuen Roman ‚Das weiße Schiff‘ arbeitete, kam es öfter vor, dass er mitten im Gespräch aufsprang und in sein Büro verschwand. Damit hatte sie sich abgefunden. Es war nicht der erste Abend, den sie allein auf dem Balkon zubringen musste, und es würde bestimmt auch nicht der letzte bleiben. Doch jetzt drehte sich Carlo noch einmal um. „Es dauert nicht lange, ich glaube, ich weiß jetzt, was fehlt!“ Und weg war er.

Ins Rattern des Druckers und in das Klappern der Tastatur, das bis auf die Terrasse hinaus zu hören war, mischte sich Kinderlachen. Sie stand auf und winkte den Nachbarskindern zu, die im Garten Federball spielten. Sie warfen den Ball in die Luft, schlugen, trafen, der Ball flog ins Gebüsch, wo sie ihn unter viel Geschrei suchten. „Libella, komm“, riefen sie ihr zu, um sie zum Mitspielen aufzufordern. Carlo und Libella wohnten in einem verwunschenen Gartenhäuschen mitten in der Stadt. Eher heruntergekommen als verwunschen, doch das beeinträchtigte die Idylle des Ortes nicht. Umgeben von Büschen, alten knorrigen Apfelbäumen und Heckenrosen, die sich bis auf die Terrasse rankten. Als Carlo sie zum ersten Mal zu sich nach Hause eingeladen hatte, hatte sich Libella von dem Garten verzaubern lassen und hatte zum ersten Mal in ihrem Leben den beinah schmerzlichen Wunsch nach einem Kind verspürt.

Noch wäre Zeit. Mit ihren 35 kam sie allmählich in ein kritisches Alter, doch Carlo war der Ansicht, er sei zu alt für ein Kind, und außerdem hatte er bereits eine Tochter. Doch Sandra war erwachsen, und Carlo hatte eigentlich keinen Kontakt mehr zu ihr, wenn man von ihren halbjährlichen Fünfminutengesprächen am Telefon und den gelegentlichen SMS einmal absah, in denen es immer um Geld ging. „Sandra meldet sich nur, wenn sie knapp bei Kasse ist“, entrüstete er sich. Sobald Libella auf ihren Kinderwunsch zu sprechen kam, hielt er ihr vor, dass ein Kind viel Liebe und Zeit brauche, und Libella hatte jedes Mal das Gefühl, dass er ihrem Wunsch ausweichen und sich dafür rechtfertigen wollte. Dabei hatte Carlo Zeit im Überfluss und Liebe auch, doch die steckte er zuerst in seine Geschichten. Nur Geld hatte er nicht, und das spielte natürlich auch eine Rolle. Oder eigentlich auch wieder nicht, denn Libella verdiente nicht schlecht mit ihrem Sprachunterricht und den Literatur-Kursen an der Volkshochschule. Sie würde sogar Elternurlaub bekommen, und die kleine Wohnung im Gartenhäuschen war trotz der Stadtnähe bezahlbar. Allerdings auch renovierungsbedürftig – doch das würde sie selbst in Angriff nehmen. Im Tünchen von altmodischen Raufasertapeten besaß sie eine gewisse Fertigkeit.

Dass Schriftsteller anders als gewöhnliche Leute tickten, hatte sie von Anfang an gewusst. Carlo war ganz anders als Kevin, und genau das hatte ihr an ihm gefallen. Manchmal erwischte sie sich bei dem Gedanken, was wohl gewesen wäre, wenn Kevin sie nicht mit Carlo bekannt gemacht hätte, doch das führte zu nichts. Sie hatte sich vor drei Jahren von einem Schriftsteller und nicht von einem Grundschullehrer erobern lassen, so war es eben.

Sie riss wieder ein Blättchen von der Pfefferminzpflanze im Blumentopf ab, zerrieb es, roch daran und ließ es auf den Tisch fallen. Die Schwalben jagten mit schrillen Pfiffen hintereinander her, gierig nach den wenigen übriggebliebenen Insekten. Wie lange musste sie noch Geduld mit ihm haben? Würde sie warten können, bis er den gordischen Knoten, in den sich sein Werk anscheinend verwickelt hatte, lösen würde? Eine Woche, einen Monat vielleicht sogar zwei? Oder besser gefragt, wollte sie überhaupt so lange Geduld haben?

Carlo kam schon nach ein paar Minuten zurück. „Weißt du, ein Bestseller braucht ein glückliches Ende, das wollen die Leserinnen. Heute ist es soweit, oder fast. Libella, tust du mir einen Gefallen?“

Sie atmete den Pfefferminzduft ein und sah ihn erwartungsvoll an.

„Libella, Schatz, könntest du mir das Manuskript schon mal zur Vorsicht im Copy-Shop kopieren? Einmal, das reicht. Ich habe es auf einen Stick gelegt.“

Freudig streckte sie die Hand aus. Das konnte doch nur eines heißen: Er war wirklich fertig! Ich hoffe es so sehr, dachte sie, aber sicher war sie nicht. Bei Carlo konnte man nie voraussagen, was er im nächsten Augenblick denken oder tun würde. Sie nahm den Stick an sich und verkniff sich die Frage, zu welchem guten Ende er ‚Das weiße Schiff‘ denn gebracht hätte. Carlo gehörte zu den Autoren, die nicht über die eigenen Texte sprachen, solange sie noch im Entstehen waren; nur Kevin erzählte er manchmal von seinem neusten Werk, und dann war er nicht mehr zu stoppen. Kurz und bündig etwas auf den Punkt zu bringen gehörte nicht zu Carlos Stärken, stichelte Kevin. Aber war das wichtig? Das Ergebnis lag jetzt auf einem Stick, in ihrer, Libellas, Hand und das genügte fürs Erste.

„Komm, setz dich und trink noch einen Schluck!“, sagte sie und entkorkte die halbleere Rieslingflasche. Sie füllte sein Glas, goss sich selbst noch einmal ein und wartete bis er ihr zuprosten und etwas sagen würde – freudig, zufrieden oder aufgeregt –, doch er saß schweigend da und schaute ins Grüne. Sie hob ihr Glas an den Mund, roch das herbfrische Aroma des Weißweins und hätte Carlo am liebsten geschüttelt, doch sie sagte nur: „Wir müssen feiern, Carlo.“ Es war, als erwache er aus einem tiefen Schlaf, er betrachtete sein Glas, scheinbar überrascht, weil es randvoll war, hob es und sagte „Cheers“. Das war alles, er trank nicht, sondern stellte das Glas gleich wieder ab. „Entschuldige Libella, ich kann nicht .... Die Figuren sind alle noch in meinem Kopf, und das Ende auch, naja ich muss gleich noch mal dran ... am besten ich gehe erst mal ein paar Schritte ums Quadrat.“ Libella blieb auf der Terrasse sitzen. ‚Mein Baby‘ hatte er seinen Roman genannt, als wäre ein Roman ein Kind, das man zur Welt bringen würde. Kein wirkliches Kind, es war eine Metapher, wirklich ein Kind zur Welt bringen, das konnten nur Frauen. Sie fröstelte, es war spät geworden. Carlo hatte wohl noch jemanden getroffen, einen Schriftstellerkollegen vielleicht, sie brauchte nicht auf ihn zu warten.

Bevor sie zu Bett ging steckte sie den Stick in ihren Rucksack; sie wollte ihn gleich am nächsten Morgen auf dem Weg zur Arbeit im Copy-Shop vorbeibringen.

In der folgenden Nacht träumte sie wieder. Irgendetwas mit Kirschlikör und einer Freundin, die auf einen Baum zeigte, an dessen Ästen Likörflaschen hingen. Es war ein verrückter Traum, viel lebendiger als der von gestern, lustiger und viel leichter. Mit einem unbändigen Verlangen nach Kirschlikör schlug Libella am frühen Morgen die Augen auf. Während sie noch dem süßen Geschmack auf der Zunge nachspürte, erfasste sie auf einmal eine Sehnsucht, die kaum auszuhalten war. Sie drängte sie hinaus, ins Leben, ihr Leben! Sie wollte in einem offenen Cabrio durch die Gegend brausen, es klang vielleicht kitschig, aber so sah ihr Traum vom schönen Leben gerade aus. Und sie wollte auf einem braunen Pferd durch den Wald reiten. Warum wusste sie nicht – vielleicht weil sie sich daran erinnerte, wie sie als Kind ein Pony geritten hatte, das Twister hieß? Möglicherweise waren diese Vorstellungen gar nicht mehr so weit weg, und jetzt, da Carlo seinen Roman beendet hatte, lag das schöne, aufregende, ereignisreiche Leben vielleicht schon zum Greifen nah? Sein Manuskript war fertig, mit ein bisschen Glück würde er sich wieder in den Mann verwandeln, in den sie sich einmal verliebt hatte. Ein aufregender Anfang, der schon ziemlich lange zurücklag. Trotzdem, wann, wenn nicht jetzt? Das Leben, ihr gemeinsames Leben, musste endlich beginnen, es war noch nicht zu spät und vielleicht würde es doch noch ein Leben zu dritt.

Sie schlug die Decke zurück und hielt lauschend inne. Hatte sie sich verhört oder führte sie die Macht der Gewohnheit an der Nase herum? Sie setzte sich auf die Bettkante. Nein, es gab keinen Zweifel, das Geräusch kam aus Carlos Zimmer, wieder hörte sie die Tasten klappern. Sie schüttelte den Kopf, fuhr sich durchs Haar. Nein! Diesmal nicht! Diesmal würde ihre Stimmung nicht kippen, sie würde nicht zulassen, dass sie sich von einem simplen Geräusch an den Rand drücken ließe, sie, Libella, würde nicht zulassen, dass ihre prickelnde Hoffnung flacher Enttäuschung Platz machte. Dieser Morgen veränderte alles. Da war der Kirsch-Traum, und in diesem Augenblick verstand sie seine Botschaft. Sie hieß: Dein Leben soll ein Fest sein! Libella stand auf, reckte sich. Nach all der Maloche soll mein Leben ein Fest werden! Ist das nicht verrückt?

Sie trank eine Tasse Kaffee, mehr frühstückte sie nicht; sie begriff: Der Traum verlangte nach einer Tat. Sie griff die Einkaufstasche, ging in den Discounter an der Ecke, der schon um 6 Uhr morgens öffnete, und kaufte eine Flasche Edelkirsch, so wie es der Traum wollte. Zuerst wusste sie nicht warum, aber dann erinnerte sie sich an einen alten Werbeslogan: Nur Küsse schmecken besser! Der Slogan tanzte in ihrem Kopf herum, er wirkte wie ein kleines Kraftwerk, das ihr einhämmerte, was zu tun war. Wieder zu Hause packte sie ohne lange zu überlegen ein paar Sachen in ihren schwarzen Rollkoffer: Seife, Zahnbürste, Unterwäsche, Socken, ein T-Shirt zum Wechseln und ihre bequemen Laufschuhe. Als Carlo ins Zimmer kam, sagte sie schnell, ohne mit dem Packen aufzuhören: „Morgen früh muss ich mit dem Bücherbus in den Odenwald fahren. Das Wetter bleibt gut, vielleicht bleibe ich ein, zwei Tage weg.“ Der Bücherbus gehörte zu Libellas Arbeit, es war nicht ungewöhnlich, dass sie wie jetzt im Frühsommer einen Tag Urlaub anhängte, wenn sie in einer lieblichen Gegend war. Tatsächlich war Carlo überhaupt nicht überrascht. Im Gegenteil, er schien sogar froh zu sein, in Ruhe arbeiten zu können.

„Wenn du weg bist, werde ich meine Bewerbungen an die großen Publikumsverlage losschicken“, sagte Carlo. „Das ist Schwerarbeit, da muss ich mich konzentrieren.“

„Ich drücke dir die Daumen“, sagte Libella. Mehr sprachen sie an diesem sonnigen Vormittag nicht miteinander. Sie ging zur Arbeit wie immer, aß mit Kevin in dem kleinen Bistro an der Ecke zu Mittag und als sie am Abend wieder nach Hause kam, war Carlo ausgegangen. Sie las seinen Zettel auf dem Küchentisch ohne sich aufzuregen. Was hätte sie auch zu einer Nachricht sagen sollen, die kurz und bündig ‚TUNNEL‘ lautete. ‚NICHT AUF MICH WARTEN; KANN SPÄT WERDEN‘.

Die Sitzungen im ‚Tunnel‘, wie sich die einzige Autorenvereinigung der Stadt nannte, dehnten sich manchmal bis nach Mitternacht aus, weil es nach der Arbeitssitzung, auf der Texte vorgelesen und kritisiert wurden, in die Kneipe „Ritterhalle“ ging. Obwohl dort schon lange nicht mehr geraucht wurde, steckte der abgestandene Zigarettenrauch vieler Jahrzehnte noch in den Tapeten, und es roch nach Sauerkraut. In einem Nebenzimmer wurde dort die lokale Literaturszene durch die Mangel gedreht und viel Bier getrunken. Libella zerriss den Zettel in viele kleine Stücke. Einmal hatte Carlo sie mitgenommen und sie hatte sich schrecklich gelangweilt. Schlimmer noch, die stichelnden Beiträge der Mitglieder, die nichts gelten ließen, hatte sie abgestoßen. Sie überlegte, ob sie ins Kino an der Ecke gehen sollte, doch dann ließ sie den Gedanken fallen. Zum dritten Mal ‚Jules et Jim‘ wollte sie sich nicht ansehen. Nach dem Abendessen auf der Terasse schnappte sie sich ein Buch und richtete sich auf einen gemütlichen Leseabend ein. Als Carlo um zehn Uhr immer noch nicht aufgetaucht war, ging sie schlafen. Mitten in der Nacht wachte sie auf, hörte, wie Carlo ins Bett ging. Sie steckte sich ihre Ohrstöpsel in die Ohren, drehte sich auf die andere Seite und schlief gleich wieder ein.

Am nächsten Morgen, als die ersten Vögel zu zwitschern begannen, stand sie auf, stellte die Flasche Kirschlikör auf den Küchentisch – vielleicht brachte der Likör Carlo auf neue Ideen? Sie kochte einen starken Kaffee, der so jenseitig duftete, dass sie befürchtete, Carlo könne davon aufwachen, schenkte sich eine Tasse ein, trank einen Schluck, verbrannte sich die Zunge und stellte sie wieder hin. Ich muss los, dachte sie und stolperte mit ihrem Rollkoffer die Stufen hinunter. An der Gartenpforte drehte sie noch einmal um, weil sie das Wichtigste vergessen hatte. Sie schlich auf Zehenspitzen zurück in die Wohnung und schnappte sich ihren Rucksack, füllte noch schnell ihre Trinkflasche mit Wasser und wickelte als Notration einen Apfel in eine Serviette. Als sie die Haustür hinter sich zuzog, fing eine Amsel zu singen an. Sie stieg in die erste Straßenbahn, die an der Haltestelle stand, als ob sie nur auf Libella gewartet hätte. Die Tram fuhr zum Bahnhof.

Die Bahnhofshalle glich in dieser frühen Stunde einem Bienenstock. Weil sie kein bestimmtes Ziel hatte, kam jeder Zug für sie in Frage. Der Einfachheit halber entschied sie sich für den nächsten, hielt sich nicht damit auf, eine Fahrkarte zu kaufen. Als der ICE einfuhr, drängten Menschen auf den Bahnsteig, zogen Koffer hinter sich her, stießen Libella mit ihren Ellbogen zur Seite. Kein Ticket, dachte sie. Na und? Vor ihr hielt ein Wagen der 1. Klasse, beherzt stieg sie ein, suchte sich einen Fensterplatz und verstaute ihren Rollkoffer in der Gepäckablage. Er war nicht schwer. Wenn man nicht wusste, wohin die Reise ging, durfte man sich nicht mit schweren Dingen belasten. Sie nahm in Kauf, erwischt zu werden, und hoffte, dass kein Kontrolleur käme, nicht weil sie schwarzfahren wollte, sondern weil sie dem Schaffner ein Reiseziel hätte nennen müssen. Sie wollte ja nicht weit, vielleicht schon nach ein, zwei Haltestellen aussteigen, sich die Geschäfte im Bahnhofsviertel ansehen, ohne Plan die Stadt erkunden, sie würde in einem Café hinter einer Zeitung verborgen die Leute beobachten und irgendwo in einem freundlichen Restaurant zu Mittag essen. Der Zug fuhr an. Sie stellte ihren Rucksack neben sich auf den Sitz und entdeckte eine Postkarte auf der Sitzfläche. Wahrscheinlich war sie einem aus der Tasche gerutscht, oder hatte sie jemand absichtlich zu Werbezwecken hingelegt? Sie musste schmunzeln, denn auf der Karte stand ein Sinnspruch von Rumi, mit dem sie sich in ihrem VHS-Kurs im vergangenen Semester beschäftigt hatte. In diesem Kurs waren ein paar engagierte Rentner gesessen, die parallel auch den PC-Kurs ‚Fotoshop‘ besucht hatten. Die Karte sahaus wie das perfekte Ergebnis dieser beiden Kurse. Auf blauem Untergrund stand in weißer Kursivschrift: ‚Die Liebenden finden sich irgendwo am Ende. Sie lebten, der eine in dem anderen, von Anfang an‘. Über diesen Spruch hatten die Teilnehmer lange nachgedacht. Ein Paar hatte sich in ihrem Seminar neu kennengelernt, und die beiden behaupteten seither, Rumi hätte sie zusammen-geführt. Je länger ihre Erinnerungen auf Libella einstürmten, desto mehr veränderte sich ihre Stimmung. Als der Zug anfuhr, erfasste sie eine Welle von Traurigkeit – wie steht es eigentlich mit Carlo und mir, fragte sie sich. Trifft der Spruch auch auf uns zu? Ihre Antwort stimmte sie wieder hoffnungsvoller: Vielleicht brach sie nur deshalb auf, um Carlo irgendwo wiederzufinden, den Carlo, in den sie sich einmal verliebt hatte. Sinnend hielt sie die Karte in der Hand. Die Liebenden finden sich irgendwo am Ende! Ganz unten in der Ecke entdeckte sie zwei große rote Buchstaben in einem roten Rahmen: DB, das Logo der Deutschen Bahn. Eine Reisewerbung für Liebende! Sie steckte die Karte hinten in ihren Rucksack, lehnte sich zurück und schloss lächelnd die Augen.

Eine Durchsage informierte sie über den nächsten Halt: Frankfurter Flughafen. Libella stellte mit einem leichten, keineswegs unangenehmen Schrecken fest, dass sie im Flughafenzubringer saß, der keine Zwischenstopps machte. Erster Halt: Flughafen!

Auf einmal fühlte sie sich hungrig, sie hatte nichts gefrühstückt, ihr Hals war trocken, vielleicht war es auch die Aufregung, die ihre Reise ins Unbekannte hervorrief. Sie griff nach ihrem Rucksack, tastete nach der Trinkflasche und fuhr wie elektrisiert zurück. Da war etwas, was da nicht hingehörte, ihre Finger stießen an die scharfe Kante eines Papierstapels. Sie zog ihn heraus und hielt Carlos Manuskript in der Hand – Carlos Baby, sein Bestsellerprojekt! Notdürftig geheftet, ohne Schutzumschlag und ohne Deckblatt. Auf der ersten Seite stand der Titel und ein Datum, das war alles. Oh mein Gott, das hätte mir nicht passieren dürfen! „Und verlier den Stick nicht“, hatte ihr Carlo nachgerufen. Den Stick hatte sie ihm wiedergegeben, gleich nachdem sie von der Arbeit nach Hause gekommen war, hatte sie ihn auf seinen Schreibtisch gelegt, genau wie den Papierstapel oder vielleicht doch nicht? Da fiel ihr ein, dass sie beim Kopieren aus Versehen zwei Exemplare ausgedruckt hatte, die Zwei war auf dem Apparat noch eingestellt gewesen, sie hatte nicht darauf geachtet. Zu Hause hatte sie ein Exemplar auf Carlos Schreibtisch gelegt, weil er ausdrücklich nur eines bestellt hatte, und das andere hatte sie in ihrer Schublade aufbewahren wollen. Keine Ahnung, wie es in dem Rucksack gelandet war.

Entgeistert starrte Libella auf das Manuskript. Es war über 200 Seiten stark, wirklich beachtlich. Aber warum hatte er nicht seinen Namen in die Kopfzeile gedruckt? Tragisch war das nicht, es war ja nichts verloren-gegangen, sein PC war bestimmt nicht abgestürzt und der Stick garantiert auch noch da. Aber wenn einem Unbefugten das Papiermanuskript in die Hände fiele, könnte der allen möglichen Unfug damit treiben. Diebstahl geistigen Eigentums – darüber gab es spannende Geschichten zu lesen. Ein richtiger Schriftsteller-albtraum – du verlierst ein unveröffentlichtes Manuskript, das du jahrelang mit dir herumgeschleppt hast, und dann erscheint ein Bestseller auf dem Markt unter einem Namen, der nicht deiner ist. Du weißt genau, dass es dein Buch ist, kannst es aber nicht beweisen!

Sie schraubte die Trinkflasche auf und trank mit großen Schlucken. Wenn Carlo wüsste, dass ich sein Manuskript im Handgepäck mit mir herumtrage! Vielleicht hätte der neue Roman tatsächlich das Zeug zu einem Bestseller, wer konnte das wissen? Sie stand auf, hievte den Koffer aus der Ablage und verstaute das Konvolut ganz unten auf dem Kofferboden. Sie atmete auf; den Koffer würde sie nicht mehr aus den Augen lassen, da würde es die Reise über sicher aufbewahrt sein.

Nach einer dreiviertel Stunde hielt der ICE im Untergeschoss des Flughafens. Libella hängte sich den Rucksack über die Schulter, griff ihren Koffer und drängte aus dem Zug. Ein Menschenschwarm nahm sie auf und trieb sie auf eine Rolltreppe zu. Sie fuhr hinauf und folgte den Hinweisschildern ‚Abflug‘. Nach zwei, drei weiteren Rolltreppen stand sie in der Abflughalle. An den Gepäckschaltern hatten sich lange Warteschlangen gebildet. Die Anzeigetafel gab die nächsten Flüge in die Hauptstädte aller Welt an. Paris, Barcelona, New York, Rom, Wien, Istanbul, Karachi ... Sie schloss eine Sekunde lang die Augen und fühlte sich wie auf hoher See. Istanbul! Warum nicht? Durch den Bazar schlendern und einen kleinen fliegenden Teppich kaufen wollen, so lange handeln, bis der Händler nachgibt und ihn zum halben Preis einpackt, sie hatte immer schon Spaß am Handeln gehabt! Erst Tee trinken und dann knallhart das Ziel verfolgen. Istanbul, das wäre etwas! Energisch umfasste sie den Griff ihres Rollkoffers, da fiel ihr Blick auf einen Schalter, der wie eine einsame Insel im tosenden Ozean wirkte. Es gab keine Warteschlange, und die Dame im blauen Kostüm hinter der Theke schien sich zu langweilen. Last- Minute! Libella strich sich die Haare aus der Stirn. Mit beiden Ellbogen auf die Theke gestützt, den Rollkoffer fest zwischen die Füße geklemmt, sagte sie: „Einen Flug bitte!“

Die Dame in blau lächelte.

Warum antwortete sie nicht? „Ich möchte einen Flug buchen!“ Libella betonte jedes einzelne Wort. Gerade als sie ‚Istanbul‘ hinzufügen wollte, verschwand Istanbul von der Anzeigetafel.

„Verraten Sie mir auch wohin?“

Gute Frage, aber Libella hatte jetzt kein Ziel mehr. Last Minute, dachte sie, da kommt es doch nicht darauf an, was ich will, da entscheidet etwas anderes. Vielleicht der Zufall, wenn es so etwas wirklich gibt. Manche Leute allerdings bezweifeln es, Rumi zum Beispiel. Die Dame hinter der Theke schaute sie auffordernd an und riss Libella aus ihren philosophischen Betrachtungen. Also gut, dachte sie, wenn das hier Last Minute ist, dann muss ich kein Ziel haben: „Überraschung! Was bieten Sie mir an?“

„Bristol, 12 Uhr 30. Sie hätten noch Zeit, Ihren Koffer aufzugeben, danach können Sie gleich zur Abfertigungshalle gehen.“

„Muss ich den Koffer einchecken?“, fragte Libella stirnrunzelnd, doch dann gefiel ihr die Idee. Sie würde das sperrige Ding nicht durch den ganzen Flughafen ziehen müssen und ihn nicht unbeaufsichtigt irgendwo stehenlassen, wenn sie auf die Toilette ginge – im Gepäckraum war der Koffer bestimmt besser aufgehoben.

„Bristol?“

„Bristol, United Kingdom – aber es gäbe auch noch einen besonders preisgünstigen Flug nach Bristol, Tennessee eine Stunde später.“

„Bristol-Tennessee? Amerika!“ Eine solche Gelegenheit würde so schnell nicht wiederkommen. Aber brauchte sie für diesen Flug nicht ein Visum, und sie hatte nicht einmal ihren Reisepass dabei. Und viel länger als eine Woche Urlaub war nicht drin, da wäre ein Flug von knapp zwei Stunden bestimmt die bessere Wahl.

„Ich nehme den nächsten“, sagte Libella.

„12 Uhr 30. Zahlen Sie mit Karte?“

Sie schüttelte den Kopf und zählte die Scheine passend auf die Theke. „Sie können Ihr Gepäck gleich dort drüben abgeben“, sagte die Reisefrau. Libella reihte sich in die Warteschlange ein. Vor ihr standen drei Männer, die wie Geschäftsleute aussahen. Engsitzende Anzugjacken, weiße Hemden und gestreifte Krawatten, neben sich kleine graue Rollkoffer und in der Hand Aktentaschen, alle drei zum Verwechseln ähnlich. Um die Zeit zu nutzen, und weil sie ihr schlechtes Gewissen drückte, zog sie das Handy heraus und schrieb Carlo eine SMS. „Hi, ich musste weg. Brauche dringend Urlaub! Mach dir keine Sorgen. LieGrü Lib.“ Die Sorgen bezogen sich nicht auf sie, Libella, sondern auf ‚Das weiße Schiff’, das sicher im Koffer lag, aber das konnte Carlo ja nicht wissen. Sollte er auch nicht, auf gar keinen Fall. Kevin schickte sie die gleiche Nachricht. Doch bei ihm fügte sie hinzu: „Bin auf dem Weg nach Bristol, England.“

Als sie aufsah, stand eine Frau vor ihr, sie musste sich vorgedrängt haben, als Libella mit Schreiben beschäftigt war. Die Männer verließen den Schalter. Die Frau trug ein enges Businesskostüm, schwarzer knielanger Rock, weiße Bluse, tailliertes Jackett, im Ausschnitt eine schmale goldene Kette. Rote High Heels gut 100 mm hoch. Routiniert stellte sie ihren Rollkoffer auf das Wiegeband und befestigte den Klebestreifen am Griff. Flüchtig schaute Libella der Frau nach, die in einer unglaublichen Geschwindigkeit Richtung Abflug stöckelte. Die kannte sich aus, Libella wäre ihr gern gefolgt, aber da bog sie schon um die nächste Ecke. Jetzt verschwand auch Libellas Koffer im schwarzen Loch. Sie hängte ihren Rucksack über die Schulter, kniff die Augen zusammen und suchte die Anzeigetafeln für Abflug Nr. 333. Ihre Fernsicht war nicht mehr die beste, irgendwann wäre sicher eine Brille fällig.

Sie war die letzte am Gate. Die Stewardess scheuchte sie die Gangway zum Bus hinunter. Auf dem Rollfeld verwirbelte ihr ein schneidender Wind die Haare. Libella rannte im Laufschritt die Treppe zum Einstieg hinauf. Eine Flugbegleiterin nahm sie in Empfang und deutete auf den freien Fensterplatz in der zweiten Reihe. Die Frau neben ihr war schon angeschnallt, sie saß mit geschlossenen Augen da, ohne auch nur einen Zentimeter zur Seite zu rücken. Als Libella ihren Rucksack unter dem Sitz verstaute, löste die Frau den Gurt, kickte ihre High Heels weg, stand auf und öffnete das bereits geschlossene Gepäckfach. Ihre Stöckelschuhe waren rot. Schon stand die Stewardess hinter ihr und forderte sie auf, sich wieder hinzusetzen. „In a second, I just have to change my shoes“, sagte die Frau und deutete auf ihre High Heels. Die Flugbegleiterin lächelte verständnisvoll. Sie schlüpfte in ein Paar bequeme Slippers, steckte die High Heels in die Reisetasche und gab sie der Stewardess. Dann zog sie sich ihre Lippen mit einem blutroten Lippenstift nach. Libella schaute verstohlen zu ihr hinüber. Was für eine Farbe, dachte sie. Weil sie nicht aufdringlich wirken wollte, drehte sie sich zum Fenster, doch ein penetranter Duft nach Zitrone und irgendetwas Undefinierbarem nötigte sie, sich wieder umzudrehen. Jetzt auch noch Parfüm? Und dann auch noch das olle Kölnisch Wasser, wie sie an der Flasche erkannte, wenn auch im neuen Design?

„Like it? It`s Lemon and Ginger, duty free.”

Libella mochte Parfüm nicht besonders, vor allem keinen Zitronenduft und schon gar kein Kölnisch Wasser. Aber es hätte zu weit geführt, der Frau zu erklären, dass alle Taschentücher von Libellas Großmutter nach muffigem Kölnisch Wasser gerochen hatten und sie sich als Kind manchmal nicht dagegen wehren konnte, sich in so ein Taschentuch schnäuzen zu müssen.

Die Stewardess begann mit ihrer Pantomime. Während sie auf die Stöpsel der Schwimmweste zeigte und dann die Tonbandstimme den Gebrauch der Sauerstoffmaske erklärte, hielt die Nachbarin die Augen geschlossen. Libella dagegen verfolgte aufmerksam jede Bewegung der Vorstellung und hörte sogar der Tonbandstimme zu, die den Fluggästen einschärfte, im Notfall zuerst sich, dann den anderen zu retten. Ich könnte nicht einmal eine Schwimmweste oder eine Sauerstoffmaske ohne fremde Hilfe anlegen, dachte sie, wahrscheinlich wäre ich schon vor der eigentlichen Katastrophe an einem Herzinfarkt oder etwas Schlimmerem gestorben. Schon jetzt klopfte ihr Herz wie wild, und die Maschine hatte noch nicht einmal abgehoben. Sie legte ihre Hand aufs pochende Herz, schloss die Augen und wartete auf den Takeoff.

„Haben Sie in Bristol zu tun?“ Ihre Nachbarin berührte sie sanft am Oberarm: „Alles gut?“

„Sind wir schon gestartet?“

„Sie sehen blass aus!“

„Ich bin auf einer Überraschungsreise“, hauchte Libella, als ob dieser Satz alles erklärte.

„Ein Flug ins Blaue?“ Die Frau lächelte.

„Last Minute.“ Ihr Herz hatte sich beruhigt, und sie war auf einmal voller Abenteuerlust. „I am Lib.“ Sie war selbst erstaunt, es war ihr einfach so herausgerutscht – aber Lib klang gut – Lib passte besser zu England als Libella, hier würde kaum jemand die Anspielung auf die bekannte Limonade aus ihrer Kindheit bemerken.

„Nice name! I am Gracia, call me Grace!“ Sie streckte Lib die Hand hin. Sie schlug ein und dachte: Vielleicht kennt sie sich in Bristol aus, und wir können ein wenig über die Stadt plaudern. Aber dazu gab es keine Gelegenheit. „I am sorry, I have to work“, sagte Grace. Sie zog ein umfangreiches Dossier aus ihrer Aktentasche und vertiefte sich darin. Den ganzen Flug über notierte sie Bemerkungen am Rand der Seiten und machte Unterstreichungen; sie beachtete nicht einmal die Flugbegleiterin, die Tee und Kaffee anbot, und schien alles um sich herum vergessen zu haben.

Kurz vor dem Anflug auf den Flughafen von Bristol sagte Grace, wie um sich zu entschuldigen, dass sie von ihrem Fahrer abgeholt werde und sich beeilen müsse, durch den Zoll zu kommen. Im Stehen besprühte sie sich noch einmal mit ‚Lemon und Ginger‘, und Lib befürchtete, sie würde ihr auch eine Zitronenerfrischung anbieten. Doch glücklicherweise drängte sie sich gleich nach der Landung vor die Ausgangstür, um als erste das Flugzeug zu verlassen. Auch Lib war beim Aussteigen unter den Ersten. In der Gepäckausgabe schaute sie sich noch einmal nach Grace um, doch die hatte schon ihren Rollkoffer erwischt, als sich Lib gerade am Gepäckband aufstellte.

Koffer, Reisetaschen und Rucksäcke ruckelten an Lib vorbei. Ein Gepäckstück nach dem anderen wurde vom Band genommen, die Zahl der Wartenden verringerte sich von Minute zu Minute. Lib tippelte mit kleinen Schritten am Band entlang. Ihre Blase drückte, und sie bereute, dass sie ihren Koffer eingecheckt hatte, sie hätte schon längst draußen sein können. Immer mehr Koffer und Taschen purzelten aus dem Förderschacht. Sie stellte sich an die Stelle, wo das Gepäck zum Vorschein kam, und wartete. Vielleicht sollte sie ihre weiteren Reisepläne vom Wetter abhängig machen? Je nach Wetterlage würde sie sich zuerst die Stadt anschauen oder vorher ein Hotel suchen. Ob es draußen regnete oder eher trocken und windig war?

Jetzt lag nur noch ein schwarzer Koffer auf dem Band. Lib griff zu und stellte ihn neben sich auf den Boden. Aber irgendetwas stimmte nicht: Dieser Koffer trug einen Adressenanhänger, doch ihren eigenen Anhänger hatte sie im Flughafen noch schnell beschriftet und in die Seitentasche gesteckt. „Gracia Highmoon, Cliffsidehome, 67 Mullhollanddrive, Swansea“ und eine Handynummer. Der Koffer gehörte Grace, Gracia in den hohen Schuhen. Sie hat den erstbesten Koffer genommen, der aussah wie ihr eigener, dachte Lib, so eilig hatte sie es. Einen Augenblick lang überlegte sie, ob sie einfach mit Gracias Koffer, in ihren Kleidern, ihren High Heels, ihrer Unterwäsche und mit ihrer Zahnpasta weiterreisen sollte – doch dann erinnerte sie sich, wie Gracia in ihrem engen Rock und den Stöckelschuhen zum Gate geeilt war – in einem solchen Outfit würde sie keinen Fuß vor den anderen setzen können. Was für ein Mist! Jetzt musste sie auch noch die Verwechslung melden. Sie schaute sich nach jemandem vom Bodenpersonal um, doch da war niemand.

Erst mal raus hier. Lib zog den Koffer Richtung Ausgang, reihte sich in die Schlange der Nicht-Commonwealthbürger ein. Ein Gedanke blitzte in ihr auf – was wäre, wenn in dem Koffer Schmuggelware versteckt wäre und der Zollbeamte den Inhalt des Koffers sehen wollte? Weiße Päckchen mit Heroin im Kofferfutter eingenäht? Oder Diamanten? Oder noch schlimmer – Kinderpornos? Jetzt war sie an der Reihe, der Beamte winkte sie heran, sie hielt die Luft an, passierte anstandslos die Ausweiskontrolle und dann auch den Zoll, auch hier winkte sie der Beamte einfach durch. Sie betrat die Ankunftshalle, spürte ein dringendes Gefühl sich zu schütteln, widerstand und ging durch die Drehtür. Gegenüber hielt ein Reisebus an, die Passagiere stiegen gerade aus. Sie überquerte die Straße und fragte den Busfahrer, wohin er führe. „Swansea, in half an hour“, sagte der Fahrer. Swansea, das war die Stadt, in der diese Grace wohnte. Warum nicht, dachte Lib, warum soll der Koffer nicht die Führung übernehmen? Auf einmal war alles anders, sie hatte ein Ziel, auch wenn es der Koffer bestimmt hatte und es wohl nur ein Zwischenziel war. Sie erkundigte sich beim Fahrer nach dem Fahrpreis und stellte mit Schrecken fest, dass sie kein englisches Geld bei sich hatte. „Go and get some change inside the airport, we’ll wait for you“.

Zehn Minuten später saß Lib im Reisebus nach Swansea. Ich habe wieder die erstbeste Reisemöglichkeit ergriffen, dieses Muster scheint sich zu bewähren. Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück und fühlte sich auf einmal wundersam leicht. Der Bus ruckelte an, kam zu einem Kreisel und fuhr linksherum hinein. War der Busfahrer blind? Das konnte nicht gut gehen, Lib war kurz davor aufzuschreien. Die Mitreisenden saßen ruhig auf ihren Plätzen, beschäftigten sich mit ihren Smartphones oder hörten mit zugestöpselten Ohren Musik. Der Bus verließ den Kreisel und fuhr auf der linken Straßenseite weiter, als sei es das Natürlichste von der Welt. Ist es ja auch, dachte Lib aufatmend, sie war ja in England. Aber der Schock hatte etwas in ihr aufgestört – sie öffnete ihren Rucksack und tastete nach Carlos Manuskript; sie fand die Flasche, die sie vor dem Abflug noch schnell ausgetrunken hatte, auch die Papierserviette mit dem Apfel, alles war da, nur das Manuskript nicht. Da fiel es ihr ein – das Manuskript steckte gar nicht im Rucksack, es lag zuunterst in ihrem Koffer, der eine andere Reise angetreten hatte.


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