Georg Berkemer

Max Weber und Indien

Eine Einführung

Herausgegeben von Michael Mann

Aus dem Vorwort

 

Magisterarbeiten sind gelegentlich akademische Schätze, die in Dekanatsarchiven verborgen liegen, ohne je das Tageslicht gesehen zu haben, sieht man einmal von demjenigen über den Schreibtischen der Gutachter und des Verfassers sowie gegebenenfalls ‚mitleidender‘ Freunde und Lebensabschnitts-partnerIn ab.

 

Der vorliegende Text beruht auf einem solchen Schatz, den zu heben ich mich entschlossen habe, nachdem ich aus den vielen Gesprächen mit Georg Berkemer über Max Weber herausgehört hatte, dass seit der Einreichung der Magisterarbeit 1985 auf diesem Feld der Forschung keinerlei Fortschritt gemacht worden ist. Daraufhin ließ ich mir den Text geben.

 

Nicht nur über dessen wissenschaftlich-analytische Qualität war ich beeindruckt, sondern auch von dem Umstand, dass, soweit ich das aufgrund meiner eigenen Beschäftigung mit Max Weber einordnen kann, die Magisterarbeit in der Tat den letzten Stand der Forschung widerspiegelt.

 

2012, 196 Seiten, 19,80 Euro, ISBN 978-3-937603-62-9


So reifte schließlich der Gedanke, die Magisterarbeit, die 1985 an der Abteilung für Ethnologie das Südasien-Instituts an der Universität Heidelberg vorgelegt wurde, in ihrer ursprünglichen, durch Georg Berkemer 1986 leicht überarbeiteten und erweiterten Fassung herauszugeben.

 

 

Im Laufe der Jahre, und insbesondere seit der Herausgabe der kritischen MAX-WEBER-Gesamtausgabe seit 1986, mögen neue Erkenntnisse einige im Text gemachte Aussagen veraltet erschienen lassen. Dies ist freilich normal und aufgrund Georg Berkemers und meiner Konzeption von Wissenschaft als Prozess kollektiven Bemühens um Erkenntnisgewinn auch zu begrüßen. Sich daraus ergebende Änderungen auch im Sinn von Weiterführungen aber mögen andere vornehmen, die dann hoffentlich einen besseren Zugang zu Max Weber finden werden. Nicht zuletzt soll auch mit Hilfe der nun vorliegenden Publikation einem offensichtlich sträflich vernachlässigten Forschungsfeld Zuträgerarbeit geleistet werden. So ist denn der vorliegende Text als Versuch zu lesen, sich der komplexen Materie von Max WEBERs Herrschaftssoziologie mit dem Blick auf Südasien zu nähern. Mit Hilfe dieser Soziologie sollen einige Eckdaten der indischen Geschichte und Sozialstruktur in einen inzwischen zum Klassiker avancierten globalgeschichtlichen Diskurs um Religion und Werte zu stellen.

 

Sinn der nun vorliegenden Publikation ist es, Max WEBERs System der Soziologie aus sich selbst heraus zu verstehen und als Schlüssel zum Verständnis von WEBERs Ideen zu Südasien zu verwenden. Der Impetus war und ist nach wie vor, WEBER mit WEBER zu erklären. Ob er recht hat(te) oder nicht, spielt erst in zweiter Linie eine Rolle und ist nicht Gegenstand der vorliegenden Analyse. Natürlich ist sein Langem bekannt, dass die Perspektive des europäischen Soziologen Max WEBER, mag sie noch so ‘objektiv’ und wertfrei gemeint sein, als geradezu paradigmatisches Beispiel stehen kann für die Verstricktheit in jenen ethnozentrischen Vorurteilen, die letztlich den wissenschaftlichen Normalbetrieb bei seiner Hinwendung zum exotischen Anderen kennzeichnen. Diese ‚Verstricktheit‘ am Beispiel seiner „Indien-Abhandlungen“ zu untersuchen muss jedoch einem anderen Forschungsprojekt vorbehalten bleiben, zu dem die Studie von Georg Berkemer dann sicherlich ihren ganz eigenen Betrag leisten wird.

 

In den Kulturwissenschaften Südasiens war in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für einige Zeit eine – oft eher implizite – Auseinandersetzung mit WEBERs Arbeiten weit verbreitet, so bei DUMONT, KANTOWSKY, PFEFFER und STERN. Gerade DUMONT kommt eine Schlüsselstellung in der neueren Südasien-spezifischen WEBER- Rezeption zu. Da DUMONT, meist ohne das Vorbild zu erwähnen, der große WEBER-Multiplikator in Südasien war, lastet auf WEBER ein vierfacher Makel: 1. WEBER war Interpret von MARX und ENGELS und daher verdächtig, die „Asiatische Produktionsweise“ unter anderer Terminologie als asiatische Sackgasse ‚beweisen‘ zu wollen; 2. machte sich WEBER als Propagandist des europäischen Sonderwegs des Sympathisantentums von Rassismus und Imperialismus verdächtig; 3. saß WEBER als DUMONT-Vordenker bei den Orientalisten (im Sinne Edward Saids) mit im Boot. DUMONTs Indien-Bild stellt einen der letzten Höhepunkte der klassischen, kolonialistisch-orientalistischen Indienforschung mit ihren unhinterfragt aus dem 19. Jahrhundert übernommenen Kategorien wie „Kaste”, „Hinduismus”, „Reinheit” usw. dar. Und 4. schließlich haben die fehlerhaften und sinnentstellenden Übersetzungen ins Englische bis heute WEBERS Ruf in Südasien zu dem eines Fachidioten, der die kulturellen Zusammenhänge nicht versteht, gemacht.

 

Kurz nach der Fertigstellung des ersten Manuskripts zu dieser Arbeit erschien mit Martin FUCHS’ Theorie und Verfremdung ein umfangreiches Buch zum Thema – „Max Weber, Louis Dumont und die Analyse der indischen Gesellschaft”, wie der Untertitel sagt –, das nicht nur für den deutschsprachigen Raum als finale Interpretation des prä-postmodernen, dem 19. Jahrhundert zu verdankenden Indienbildes (FUCHS 1988) gelesen werden kann. Die Jahre um 1980 erlebten als Produkt der strukturalistischen Welle einen Höhepunkt der Beschäftigung mit WEBER und Südasien, und es war damals, dass WEBER in Südasien, zumeist über die PARSONS- Schule sowie über Modernisierungs-Theorien zu Kenntnis genommen wurde. Letztlich aber ist die über Sekundärliteratur vermittelte Kritik an Max WEBER in Südasien weiter verbreitet als die Kenntnisse über sein Werk, was unter Anderem an der schlechten Übersetzungslage ins Englische liegt. In der hier veröffentlichten Studie wird solche Kritik allerdings nur am Rande erwähnt.

Seit 1990 hat die Zahl der Veröffentlichungen zu Max WEBER trotz des linguistic turn eher noch zugenommen. Es erschienen zahlreiche neue Auflagen und Übersetzungen von WEBERs Hauptwerken, wobei bei den Übersetzungen die meistgelesenen „Klassiker” überwiegen, während die in unserem Zusammenhang hier wichtigen Texte zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen noch immer fast völlig fehlen. Inhaltlich überwiegen Textbook-Prosa und Debatten um die bekannten Themen zum Europäischen Sonderweg, Protestantische Ethik, Max und Marx, WEBERs System der Soziologie als Kategorienlehre etc. Daneben mischt sich Kurioses mit Epigonenhaftem und Nützlichkeitsbeflissenem, etwa Kritiken, die WEBER als ewig kaisertreuen, national-deutschen Bourgeois entlarven, oder die Legitimation von Rational Choice als universale Erklärungskategorie menschlichen Handelns bis hin zum Brevier für den erfolgreichen Manager im angeblichen Geiste des nun gänzlich ins Krude bastardisierten Max WEBER. Sanjay SUBRAHMANYAM, der allen und jedem gerne unterstellt, aus Scheu vor Kreativität im eigenen Denken „rather naive, nationalist, Weberian and Marxist views” zu pflegen, um dann Autor wie Werk mit Spott zu übergießen, hätte hier ein weites Betätigungsfeld.

 

Offenbar geht jedoch mit der Übersetzung der Originaltexte auch den letzten Universalgelehrten wie SUBRAHMANYAM das Gefühl für Webers besonderen Stil verloren. Das gilt ganz besonders für die vornehm halb verschleierte Demonstration des Ekels, welchen der begnadete Polemiker WEBER manchmal hinter bis zum Zynismus lapidaren Sätzen und Definitionen verbirgt. Gerade wenn er das geist- und seelenlose Tun von Rechenhaftigkeit und Bürokratismus beschreibt, ist WEBERs Gespür für einen gewissen haut goût des Dargestellten im Original unverkennbar. WEBERs Überdruss an den gesellschaftlichen Zuständen und Zwängen seiner Zeit, die Unmöglichkeit, einen Ausweg aus dem privaten wie öffentlich-nationalen ‚Käfig‘ zu finden, und sein allgemeiner Zukunftspessimismus sind Ausdruck von und Ursache für Webers Lebens- und Leidensweg. Dass Weber eben nicht der Idealtyp des all-erklärenden, innerweltlich-asketischen Kathederpropheten war, ist von den „Diadochen” (RADKAU), allen voran Marianne Weber, als Peinlichkeit angesehen und in einem bewussten Akt der Geschichtsfälschung unterdrückt worden.

 

 

Die seriöse Postmoderne kritisiert WEBER nicht; sie nimmt ihn zur Kenntnis, oder sie schweigt. Der von den Diadochen auf das Podest gehobene, glanzvolle Meister-Erzähler ist zwar inzwischen als einer erkannt worden, zu dessen Leben und Werk die Bruchlinien genau so gehören wie die Versuche zu großen Entwürfen. Doch anders als andere Meister der Brüche im 20. Jahrhundert, wie etwa WITTGENSTEIN, BENJAMIN oder MAHLER, ist WEBER noch nicht als postmodernes Avatar herabgestiegen. Dies mag eine Mischung aus Desinteresse, Unkenntnis, Sprachschwierigkeit und mangelnder Vermarktbarkeit sein. WEBER erzeugt keine Epochen-gerecht trostreichen Gefühle, schreibt selten Feuilleton-mäßig zitierfähige Sentenzen und geriert sich weder als Genie noch als Guru. Zudem tendieren die Epigonen nicht selten dazu, ähnlich schwierig zu schreiben wie der Meister selbst.

Die Postmoderne hat ihn und sein Werk aber auch noch nicht endgültig aus der Aktualität des zeitgenössischen Denkens verabschiedet und in die Gruft der Klassiker überführt. Denn einiges an WEBERS Werk eignet sich eben doch für aktuelle Debatten. Da wäre beispielsweise und ganz besonders prononciert seine zutiefst pessimistische Grundhaltung gegenüber der Fähigkeit des modernen Staats- wie Privatbeamtentums zum Lösen der selbst erzeugten komplexen Probleme zu erwähnen. Kapitalismus als Religionsersatz ohne Sinngarantie: Steht dann wieder einmal eine WEBER-Renaissance bevor, sobald Argumentationshilfe gegen den gierigen ‚Geist‘ des globalen Raubtierkapitalismus gesucht werden muss?

 

Aus WEBERS Erkenntnisinteresse heraus haben Diskurse über sein Werk notwendig einen Europa-zentrischen Schwerpunkt. Das Thema ‚Südasien‘, ‚Indien‘ oder ‚Hinduismus‘ ist in der Literatur wesentlich seltener zu finden als die Beiträge zum ‚Europäischen Sonderweg‘. Es scheint auch weniger Interesse bei jüngeren Autoren

zu finden als WEBERS Arbeiten zu China und der ‚Islamischen Welt‘. Bei einer Konferenz zu „Max Weber und die Stadt im Kulturvergleich“, die im vom 19. bis 21. Juni 1997 an der Humboldt- Universität zu Berlin stattfand, konnte ich mich des Eindrucks nicht ganz erwehren, Ergänzung zu einem Thema zu sein, das durch einen rein europäischen Soziologiediskurs bestimmt ist. Obendrein scheint es an dieser Stelle WEBER einem Forscher zu Südasien wieder einmal schwer zu machen, einen geistreichen Vortrag halten zu wollen, wenn seine berühmte Hinduismus-Studie mit den lapidaren Worten beginnt, Indien sei und war, im Gegensatz zu China, ein Land der Dörfer. Dennoch war ein sinnvoller Beitrag zur Konferenz und zum‚Stadtbild‘ WEBERS hinsichtlich ‚Indiens‘ möglich.

 

Dass es ein solch Desinteresse, im schlechtesten Sinn, oder, im besten Sinn, ein Gering-Beachten in Bezug auf Max WEBER und Indien/Südasien vorherrscht, ist sicherlich auch dem Zwang nach Modethemen geschuldet, dem jeder unterliegt, der Wissenschaft als Beruf treiben möchte und nicht die finanziellen Mittel besitzt, die zu haben WEBER als Voraussetzung dafür dringend empfiehlt. In der seit 2000 existierenden Zeitschrift Max Weber Studies erschien bis 2005 noch kein Beitrag zum Thema der vorliegenden Publikation. Noch bleibt Südasien Randnotiz bei der Aufarbeitung des prä-globalisierten, eurozentrischen Diskurses. Dies wird sich sicher ändern, sobald die nächste ‚Indien‘-Welle zu rollen beginnt. Da die Indische Union als Supermacht der Zukunft gilt, werden auch die Pegel der Informationsflut dazu in den nächsten Jahren zu steigen beginnen und irgendwann – mit der systemimmanenten Verspätung – auch den deutschsprachigen Raum erreichen. Dann aber, Dank Georg Berkemers grundlegender Studie, besteht zumindest die Möglichkeit, auf einen wichtigen Beitrag zur Max-Weber-Forschung zurückgreifen zu können.

 

Michael Mann, Berlin im April 2012


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